Als Anröchter Netzwerkerin der Herzen stellt sich Hildegard Thiel engagiert dem täglichen Kampf gegen die Einsamkeit in unserer heutigen Gesellschaft

Hildegard Thiel ist das Gesicht, das Herz und die unermüdliche Organisatorin der Caritas-Konferenz in Anröchte. Sie ist eine wahre Architektin der Gemeinschaft im Kampf gegen die wachsende Stille, die viele Menschen erlebt haben. Seit 2007 leitet sie als erste Vorsitzende die Geschicke des Vereins. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz, ihrer Kreativität und ihrer tiefen Empathie hat sie das soziale Miteinander in der Gemeinde nachhaltig beeinflusst. Dafür wurde sie mit dem Ehrenamtspreis des Kreises Soest ausgezeichnet.

Immer bescheiden

Doch was treibt diese bemerkenswerte 75-Jährige und fünffache Mutter an, deren Engagement weit über das Gewöhnliche hinausgeht? Ihre Ideen sind im besten Sinne des Wortes zu echten Erfolgen geworden. Wenn man Hildegard Thiel nach dem Ehrenamtspreis 2024 des Kreises Soest fragt, erzählt sie keine große Heldengeschichte. Statt einer Vitrine voller Trophäen, zu denen auch das Elisabeth-Kreuz für über 20 Jahre Engagement in der Caritas zählt, hat sie einen herrlich einfachen Platz für die offizielle Anerkennung. „Weder noch“, sagt sie mit einem schelmischen Lächeln, „aber eine große Fensterbank, wo es draufpasst.“ Diese Bescheidenheit ist typisch für eine Frau, die lieber anpackt, als im Rampenlicht zu stehen.

Dringende Hilfe

Ihr Leben war immer geprägt von harter Arbeit und dem Kontakt zu Menschen. Sie hat Einzelhandelskauffrau gelernt, war später selbstständig im Lebensmittelhandel an der Seite ihres Mannes und arbeitete danach als Milchkontrolleurin im Kreis Soest. Als sie 2007 den Vorsitz der Caritas-Konferenz übernahm, sah die Not oft anders aus. Es war eine Zeit, in der Hilfe dringend und konkret benötigt wurde. „Früher haben wir wirklich mehr Lebensmittelgutscheine verteilt“, erinnert sie sich. Es ging um die grundlegende Versorgung, um die Bezahlung einer Fahrkarte für einen wichtigen Krankenhausbesuch oder um unbürokratische Unterstützung für junge Leute, die sich mit Handyverträgen in Schwierigkeiten gebracht hatten.

Wandel

„Seit Corona hat sich das grundlegend gewandelt“, sagt sie treffend. Die materielle Not sei in den Hintergrund getreten. Jetzt seien seelische Not und Einsamkeit die große Herausforderung. Die Menschen haben oft genug zu essen, fühlen sich aber allein gelassen. Auf diese subtile, aber tiefgreifende Veränderung der Bedürfnisse hat Hildegard Thiel mit ihrem Team von rund 50 freiwilligen Helferinnen und Helfern eindrucksvoll reagiert. Anstatt nur materielle Wunden zu heilen, baut sie unermüdlich Brücken zwischen den Menschen.

 

„Mein Wunsch ist mehr Verständnis untereinander. Dass nicht jeder nur sich selber sieht, sondern auch wirklich den anderen wahrnimmt mit all seinen Facetten.“

Hildegard Thiel hat der Einsamkeit in Anröchte den Kampf angesagt

 

Leuchttürme

Zwei ihrer Projekte sind mittlerweile zu Leuchttürmen des sozialen Engagements geworden. „Urlaub ohne Koffer“ ist eine solche Erfolgsgeschichte. Die Idee ist so einfach wie genial. Senioren erleben für einige Tage eine komplette Urlaubsatmosphäre mit abwechslungsreichem Programm, gemeinsamen Ausflügen und hervorragender Verpflegung. Doch das Beste daran ist, dass sie jeden Abend in ihrem eigenen, vertrauten Bett schlafen können. „Alles trägt dazu bei“, erklärt die Cheforganisatorin das Erfolgsgeheimnis. „Gute Hausmannskost, das Programm, aber vor allem die Unterhaltung und das gemeinsame Essen.“ Es sind Momente purer Lebensfreude, die hier geschaffen werden, Augenblicke, die lange nachwirken. Ein weiteres kreatives Format ist „Immer wieder sonntags“. Dieses regelmäßige Treffen richtet sich speziell an Menschen, die den Sonntag oft als lang und einsam empfinden. Bei einem gemeinsamen Mittagessen in den Räumen der Tagespflege Anröchte entstehen lebhafte Gespräche, Neuigkeiten werden ausgetauscht und soziale Verbindungen neu geknüpft oder gefestigt.

Offenes Ohr

„Die Alternative wäre, alleine zu Hause zu sitzen“, bringt es die umtriebige Vorsitzende auf den Punkt. Es geht hier um viel mehr als nur eine Mahlzeit; es geht um den warmen Händedruck, das offene Ohr und das unschätzbare Gefühl, nicht vergessen zu sein. Manchmal wird vom neuen Urenkel erzählt, ein anderes Mal wird gemeinsam getrauert, wenn ein vertrauter Platz am Tisch leer bleibt. Es sind die spontanen, ungeplanten Momente, die diese Treffen so besonders machen. Thiel erinnert sich an einen lahmen Seniorennachmittag, den eine mutige Dame mit einer spontanen, humorvollen Geschichte gerettet hat. „Und dann rockt die den Saal. Das war klasse. Das liebe ich“, erzählt sie begeistert. Diese Offenheit für Spontaneität ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Erfolgs.

Nachbarschaftshilfe

Ihre Rolle beschreibt sie am besten als „Netzwerkerin“. Und tatsächlich ist sie mit Herz und Verstand eine wahre Meisterin im Netzwerken. Sie kennt die Stärken ihres ehrenamtlichen Teams und setzt sie dort ein, wo sie sich wohlfühlen und ihre Talente entfalten können. „Ohne die vielen engagierten Menschen an meiner Seite würde es nicht klappen“, sagt sie. Doch diese zentrale Führungsrolle bringt auch ihre Herausforderungen mit sich. Seit Jahren sucht sie eine Nachfolge. Während es für konkrete Projekte leicht ist, Helfer zu finden, scheuen viele die Gesamtverantwortung. „Ich möchte einfach, dass es auch als gesamte Caritas-Konferenz bleibt und nicht jeder sein Ding für sich macht. Es ist mir wichtig, diese Einheit zu bewahren und die Fäden zusammenzuhalten.“

Tiefer Glaube

Ihren Antrieb schöpft Hildegard Thiel aus einem tiefen Glauben und einer unerschütterlichen Mitmenschlichkeit. Wenn man sie nach drei Wünschen bei einer guten Fee fragt, nennt sie nicht die Abschaffung von Bürokratie, sondern etwas viel Grundlegenderes: „Ich wünsche mir mehr Verständnis miteinander. Es ist nicht alles schwarz und weiß.“ Ihr größter Wunsch ist, dass die Menschen wieder mehr Respekt voreinander haben und einander wirklich zuhören. Dieser Appell ist das Herzstück ihrer Arbeit. Sie rettet nicht im Alleingang die Welt, aber sie macht sie in Anröchte für unzählige Menschen jeden Tag ein Stück wärmer, menschlicher und lebenswerter.

 

Text und Fotos: Holger Bernert