Bombenleger in Anröchte

von Erich Wienecke

Dieses Kapitel der jüngeren Anröchter Geschichte ist vielen Bürgern, auch in Nachbargemeinden, irgendwie bekannt, ohne jedoch Einzelheiten dazu zu kennen. Die nachfolgenden Ausführungen versuchen, etwas Aufklärung zu leisten, wobei die Namen der damals schuldhaft Beteiligten bewusst nicht genannt werden.

 

Die durchaus als dramatisch zu bezeichnende Episode hatte ihren Höhepunkt in den Jahren von 1908 bis 1912. Die Fronten dieser Auseinandersetzung wurden gebildet durch eine größere Anzahl junger Steinbrucharbeiter aus Anröchte und Klieve auf der einen und dem Amtmann Stennes auf der anderen Seite, der sich der Hilfe der örtlichen und überörtlichen Gendarmerie bediente. Die Eskalation endete mit der Verurteilung von fast zehn Beteiligten zu langjährigen Zuchthausstrafen.Im Jahre 1904 kam Amtmann Stennes nach Anröchte. Seinen Schreiben und Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass er von Anfang an die Zielsetzung hatte, die Wilderei und das "Rowdytum" auszumerzen. Dazu ist anzumerken, dass zum damaligen Zeitpunkt rd. ein Drittel der erwerbstätigen Männer auf den hiesigen Steinbrüchen beschäftigt waren. Es handelte sich um körperlich schwerste Arbeit, welche die Menschen zu einem insgesamt robusteren Umgang geprägt hat. Die Wilderei war damals nicht nur in Anröchte weit verbreitet und in einem gewissen Umfang auch geduldet. Das Beispiel des Anröchter Originals Kasper Reinert, genannt "Mausekasper", war Einzelfall: seine Jagdleidenschaft in legale Bahnen zu lenken, betrauten verschiedene Revierbesitzer mit dem Amt des Jagdaufsehers. In seinem Bemühen, in Anröchte der "Terrorisierung durch Rowdies und Wilddiebe" eine Ende zu bereiten, hatte Amtmann Stennes in jedem Fall das Recht auf seiner Seite. Bei der Lektüre der alten Aufzeichnungen kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass er bei einer etwas gelasseneren Würdigung der örtlichen Verhältnisse eine Eskalation hätte vermeiden können.

Bereits ein Jahr nach seinem Dienstantritt beantragte Amtmann Stennes, entgegen den damaligen allgemeinen Regelungen, die Ausrüstung der Anröchter Polizei mit Revolvern. Dies wurde vom preußischen Innenminister auch gestattet. Im Jahre 1908 wurde ein verschärfter Forstschutz eingerichtet. Stennes war bemüht, "energisch Ruhe und Ordnung in der sehr unruhigen Gemeinde herzustellen". Sein Vorgehen gegen das "Rowdytum" führte im gleichen Jahr zu sieben Verurteilungen zu Gefängnisstrafen zwischen vier und sechzehn Monaten. Gleichzeitig bemühte sich Amtmann Stennes um seine Integration in das Vereinsleben.

Er schreibt: "Mein Verhältnis zu der Gemeinde Anröchte ist ein gutes. Den Einwohnern habe ich gern ihre Festlichkeiten erlaubt und mich auch selbst daran beteiligt, was durchweg anerkannt wird. Die Leitung des Kriegervereines habe ich auf vielfaches Ersuchen übernommen, eine Feuerwehr von 60 Personen habe ich ins Leben gerufen und feite sie. So sind meine Beziehungen zu der Einwohnerschaft ebenso gute wie ich ein erklärter Gegner der schlechten Elemente bin, die in meiner Person ihren schärfsten Feind sehen."

In seiner Beurteilung hat er aber wohl die relativ starke Verwurzelung der meist jungen "Rebellen" in der Anröchter Bevölkerung unterschätzt. Die Reaktion auf das scharfe Vorgehen der Obrigkeit ließ nicht lange auf sich warten: Im November 1908 wurden 60 Obstbäume abgeschlagen und in der Neujahrsnacht fanden zwei "Attentate" statt. Am 18. August 1909 wurden die ersten scharfen Schüsse auf das Amtshaus abgefeuert. Ein Schuss durchschlug die Scheibe und Fensterlade und drang in ein Aktenregal ein.

Die ersten selbstgebauten Bomben detonierten im November 1909. Betroffen waren die Treppen bzw. Wohnhäuser des Nachtwächters Schmidt und des Wegewärters Stallmeister. Verwandt wurden stählerne Narben (Wagenbuchsen) von Ackerwagen (35 cm lang, 8 cm Durchmesser) mit einem Sprengstoffgewicht von ca. 3 kg. Es kam zu erheblichen Sach- aber keinen Personenschäden.

In einem Bericht an den Landrat beschwert sich der Amtmann in diesem Zusammenhang über die fehlende Unterstützung des Gemeinderates und des Ortspfarrers bei der Verfolgung der Straftaten.

Im Jahre 1910 kam es dann zur Verhaftung von mehreren Steinhauern. Trotzdem wurde im März 1910 ein scharfer Schuss auf die Wohnung des Amtmannes abgegeben. Dieser bat in einem Schreiben an den Landrat eindringlich um seine Versetzung aus Anröchtte in ein "Industrieamt". Er befürchtete auch Anschläge auf seine Familie. Über die im gleichen Jahr von Amtmann Stennes geforderte Verstärkung der Ortspolizei und die Anschaffung eines Polizeihundes kam es dann zu einer Konfrontation zwischen dem Gemeinderat und der Amtsvertretung. Während im Amt eine Unterstützung für das Vorgehen des Amtmannes vorherrschte, gab es in der Gemeinde heftigen Widerstand, der im Rücktritt der Gemeindevertretung gipfelte.

Das Jahr 1911 stellt den Höhepunkt der Unruhen in Anröchte dar. Am 23. Januar um 3 Uhr in der Frühe wurde nach Abschluss der Vorfeier zu "Kaisers Geburtstag" durch das Fenster des Saales Schnöde ein Schrotschuss auf Gendarmerie-Wachtmeister Dirksschneider und die Polizei-Serganten Broermann und Kramer abgegeben. Dirksschneider wurde dabei verletzt. Im gleichen Monat kam es zu einem Streike der Steinbrucharbeiter. Am Vorabend einer daraufhin verhängten Aussperrung wurde ebenfalls ein "Attentat" verübt. Aufgrund dieser Ereignisse verbot Amtmann Stennes bis auf Weiteres alle Festlichkeiten in Anröchte. Sehr zu seinem Missfallen wurde jedoch am Montag des Junggesellen-Schützenfestes vom Pfarrer die Schützenmesse gehalten.

Im Frühjahr 1911 gab es dann noch Gewehrschüsse auf die Wohnstubenfenster des Amtsekretärs Bürger, die Wohnung des Amtmannes, das Schaufenster des Geschäftes Schopohl und auf den Gendarmerie-Wachtmeister Blodau sowie Belastungszeugen. Im April und Mai wurden selbstgebaute Bomben vor dem Haus des Maurers Henneboel in Klieve und in der Weide des Landwirtes Bürger-Hölscher zur Detonation gebracht. Bei diesen Ereignissen gab es keine Verletzten. Als Reaktion auf diese massiven Ausschreitungen bewilligte der Gemeinderat dann doch die Einstellung eines 2. Nachtwächters und eines 3. Gendarmen in Anröchte. Drei junge Männer wurden verhaftet und im November zu Zuchthausstrafen verurteilt. Trotzdem wurden noch Fenster eingeschlagen, Scheunen angezündet und Einbrüche in Schmieden zur Beschaffung von Wagenbuchsen verübt.

Im Februar 1912 explodierte erneut eine Wagenbuchse beim Gemeindevorsteher Schorlemer und es wurde auf den Zeugen Thöne in Anröchte geschossen. Weitere Täter wurden im Mai 1912 zu Zuchthausstrafen verurteilt. Dann trat Ruhe ein.

Amtmann Stennes schreibt: "Die Bewachung des Ortes durch die vermehrten Polizeikräfte, die Anschaffung eines gut eingeschlagenen Polizeihundes, die scharfen gerichtlichen Strafen und nicht zuletzt die kräftige Beleuchtung der Straßen durch die elektrische Lichtanlage haben ihre Wirkung nicht verfehlt."

In der Bewertung dieser unrühmlichen Ereignisse war die damalige Bevölkerung Anröchtes sicherlich gespalten. Zum einen gab es eine Anzahl direkt Betroffener und Bedrohter, andererseits wurden auch Sympathien für die rebellischen jungen Leute bekundet. Viele waren eingeschüchtert und verhielten sich passiv.